Dienstag, 03.09.2024, 20 Uhr
„Vincent O. Carter: Amerigo Jones“ – Pociao und Roberto de Hollanda stellen ihre Übersetzung vor. Gesprächsführung: David Eisermann
Vincent O. Carter: Amerigo Jones. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von pociao
und Roberto de Hollanda. Limmat 2024 ca 800 S. Geb. 39 €
Titel der Originalausgabe: „Such Sweet Thunder“,
Steerforth Press, New Hampshire 2003
Amerigo Jones liebt seine Eltern Rutherford und Viola, die – als er zur Welt kommt - selbst noch Teenager sind. Er ist ein großer Träumer. Doch viele seiner Träume werden ein Leben lang unerfüllt bleiben, nicht wegen seiner Person, sondern wegen seiner Hautfarbe. „Amerigo Jones“ ist die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Kansas City der 1920er- und 1930er-Jahre, das einerseits als Zentrum des Jazz von einer lebendigen Musikszene, andererseits von Rassentrennung geprägt war. Im Mittelpunkt stehen Amerigos Schilderungen der urbanen Welt, in der er selbst seinen Weg finden muss. Vincent O. Carter hat einen unvergesslichen und musikalischen Roman geschrieben über die Geschichte Schwarzer Menschen in Amerika, über den Kampf für Gleichberechtigung und über ein starkes Gefühl von Familie und Gemeinschaft.
Vincent O. Carter (1924 - 1983) wuchs in bescheidenen Verhältnissen in Kansas City auf. 1944 wurde er in die US-Armee eingezogen und war in Frankreich stationiert. Zurück in den USA studierte er mit Unterbrüchen, arbeitete als Koch und in einer Automobilfabrik. Danach kehrte er nach Europa zurück und liess sich nach Aufenthalten in Paris, Amsterdam und München 1953 in Bern nieder, wo er Radiosendungen schrieb und moderierte, Englisch unterrichtete und malte.
Anmerkungen der Übersetzerin POCIAO:
Vincent O. Carters Roman „Amerigo Jones“ spielt während des Jazz-Zeitalters der 1920er
und 30er Jahre in Kansas City und ist eine Liebeserklärung an Carters eigenes
minderjähriges Ich, die gelungene Beschwörung seiner Kindheit und der Liebe zu seinen
Eltern aus der Perspektive des heranwachsenden Amerigo Jones.
Er gilt als ein vor seiner Entstehung kaum vorstellbarer Bericht aus erster Hand über die
afroamerikanische Kultur und das Leben der Schwarzen in Amerika vor dem
bedrohlichen Hintergrund des näher rückenden Zweiten Weltkriegs.
Der Roman ist gespickt mit Verweisen auf den Kampf für Gleichberechtigung und Freiheit
in einer überwiegend schwarzen, urbanen Gemeinschaft, die eng zusammenhält,
organisch ist und nach Aufschwung strebt. Aber Amerigo lernt auch etwas über
Sexualität, Liebe, Kunst, Literatur und das Leben selbst - Standardthemen des
europäischen Bildungsromans.
Amerigos Stimme ist die einer historisch, kulturell und politisch unterlegenen Minderheit,
die eine eigene Sicht auf die Realität besitzt, mit einer eigenen Wahrnehmung und einem
eigenen Wertesystem, die der vorherrschenden (weißen) Vorstellung von der Welt
entgegengestellt wird.
«negro slang»
Es ist bezeichnend, dass die amerikanischen Verlage von ihm verlangten, den «negro
slang» zu glätten und den Text nicht in Umgangssprache, sondern in «korrektem
Englisch» zu verfassen. Das lehnte Vincent Carter kategorisch ab, weil er sich weigerte,
seine kulturellen Wurzeln und somit seine Identität zu verleugnen.
Folglich dauerte es sehr lange – bis nach seinem Tod – ehe ein amerikanischer Verlag
sich bereit fand, sein Buch zu verlegen. Umso erfreulicher ist es, dass nun im Limmat
Verlag zu Carters 100. Geburtstag 2024 die deutsche Erstveröffentlichung erscheint.
Seine Kindheit im schwarzen Ghetto von Kansas City beschrieb er später als „schönsten
und glücklichsten Teil meines Lebens“.
So betrachtet er auch die Welt seines Romans durch die Augen eines Kindes: direkt,
unverschleiert, als Mitglied einer vertrauten Gemeinschaft, die er eins zu eins in Bilder,
Worte und Farben überträgt und dem Leser daher sehr sinnliche Eindrücke vermittelt.
Dahinter steht der unbedingte Wunsch, alles so präzise und vollständig wie nur möglich
festzuhalten, was poetische Beschreibungen der Natur ebenso einschließt wie
Werbesprüche aus dem Radio oder Anspielungen auf soziale Entwicklungen oder
kulturelle Hintergründe.
Pociao gründete nach längeren Aufenthalten in London und New York Anfang der 70er
Jahre einen Vertrieb für experimentelle Literatur aus der amerikanischen Small Press
Szene für den europäischen Raum, begegnete Humphrey Bogart zum ersten Mal im Kino
und begriff endlich, was Shakespeare mit dem Satz «Ich bin gewillt, ein Bösewicht zu
werden» gemeint hatte. Fortan beschäftigte sie sich am liebsten mit den Filous der
Literatur, übersetzte Patti Smith und Paul Bowles, folgte William S. Burroughs nach
Tanger, tanzte Walzer mit Zelda Fitzgerald, trank Champagner mit Tom Robbins und
gewann 2017 den DeLillo-Übersetzungswettbewerb des Deutschen Übersetzerfonds und
der FAZ.
Roberto de Hollanda wuchs in Südamerika und Europa auf, studierte Politikwissenschaften und Soziologie, schreibt Drehbücher, macht Dokumentarfilme, übersetzte u. a. Gonzalo Torrente
Anmerkungen der Übersetzerin POCIAO:
Vincent O. Carters Roman „Amerigo Jones“ spielt während des Jazz-Zeitalters der 1920er
und 30er Jahre in Kansas City und ist eine Liebeserklärung an Carters eigenes
minderjähriges Ich, die gelungene Beschwörung seiner Kindheit und der Liebe zu seinen
Eltern aus der Perspektive des heranwachsenden Amerigo Jones.
Er gilt als ein vor seiner Entstehung kaum vorstellbarer Bericht aus erster Hand über die
afroamerikanische Kultur und das Leben der Schwarzen in Amerika vor dem
bedrohlichen Hintergrund des näher rückenden Zweiten Weltkriegs.
Der Roman ist gespickt mit Verweisen auf den Kampf für Gleichberechtigung und Freiheit
in einer überwiegend schwarzen, urbanen Gemeinschaft, die eng zusammenhält,
organisch ist und nach Aufschwung strebt. Aber Amerigo lernt auch etwas über
Sexualität, Liebe, Kunst, Literatur und das Leben selbst - Standardthemen des
europäischen Bildungsromans.
Amerigos Stimme ist die einer historisch, kulturell und politisch unterlegenen Minderheit,
die eine eigene Sicht auf die Realität besitzt, mit einer eigenen Wahrnehmung und einem
eigenen Wertesystem, die der vorherrschenden (weißen) Vorstellung von der Welt
entgegengestellt wird.
«negro slang»
Es ist bezeichnend, dass die amerikanischen Verlage von ihm verlangten, den «negro
slang» zu glätten und den Text nicht in Umgangssprache, sondern in «korrektem
Englisch» zu verfassen. Das lehnte Vincent Carter kategorisch ab, weil er sich weigerte,
seine kulturellen Wurzeln und somit seine Identität zu verleugnen.
Folglich dauerte es sehr lange – bis nach seinem Tod – ehe ein amerikanischer Verlag
sich bereit fand, sein Buch zu verlegen. Umso erfreulicher ist es, dass nun im Limmat
Verlag zu Carters 100. Geburtstag 2024 die deutsche Erstveröffentlichung erscheint.
Seine Kindheit im schwarzen Ghetto von Kansas City beschrieb er später als „schönsten
und glücklichsten Teil meines Lebens“.
So betrachtet er auch die Welt seines Romans durch die Augen eines Kindes: direkt,
unverschleiert, als Mitglied einer vertrauten Gemeinschaft, die er eins zu eins in Bilder,
Worte und Farben überträgt und dem Leser daher sehr sinnliche Eindrücke vermittelt.
Dahinter steht der unbedingte Wunsch, alles so präzise und vollständig wie nur möglich
festzuhalten, was poetische Beschreibungen der Natur ebenso einschließt wie
Werbesprüche aus dem Radio oder Anspielungen auf soziale Entwicklungen oder
kulturelle Hintergründe.
Pociao gründete nach längeren Aufenthalten in London und New York Anfang der 70er
Jahre einen Vertrieb für experimentelle Literatur aus der amerikanischen Small Press
Szene für den europäischen Raum, begegnete Humphrey Bogart zum ersten Mal im Kino
und begriff endlich, was Shakespeare mit dem Satz «Ich bin gewillt, ein Bösewicht zu
werden» gemeint hatte. Fortan beschäftigte sie sich am liebsten mit den Filous der
Literatur, übersetzte Patti Smith und Paul Bowles, folgte William S. Burroughs nach
Tanger, tanzte Walzer mit Zelda Fitzgerald, trank Champagner mit Tom Robbins und
gewann 2017 den DeLillo-Übersetzungswettbewerb des Deutschen Übersetzerfonds und
der FAZ.
Roberto de Hollanda wuchs in Südamerika und Europa auf, studierte Politikwissenschaften und Soziologie, schreibt Drehbücher, macht Dokumentarfilme, übersetzte u. a. Gonzalo Torrente
Ballester, Rodrigo Rey Rosa und Kent Haruf.
David Eisermann: Studium in Bonn, Nizza und Pittsburg; Promotion in Bonn; von 1985 bis 2018 Kulturredakteur beim WDR; 2001, 2007,2008 und wieder ab 2019 Lehrbeauftragter der Universität Bonn mit Seminaren u.a. zur US-amerikanischen Literatur; 2011 Mitwirkung beim Aufbau des Bonner Literaturhauses, von 2013 bis 2018 geschäftsführender Vorstand des Bonner Literaturhauses; zahlreiche Publikationen