Wir erinnern an Wolfgang Hildesheimer
Leben und Werk des großen Schriftstellers – vorgestellt von Hartmut Buchholz
 
Hartmut Buchholz, passionierter Hildesheimer-Leser, hatte das Glück, den Autor mehrfach in seiner schweizerischen Wahlheimat Poschiavo zu besuchen, mehrere Interviews mit ihm zu führen, sein Atelier zu sehen.

Er schreibt zu seinem Abend über Leben und Werk von Wolfgang Hildesheimer:

„Der geradezu empörend dürftige Wikipedia-Artikel illustriert ein Dilemma: Wolfgang Hildesheimer (1916 – 1991), Büchner-Preisträger 1966, war zwischen den frühen 1950er und den frühen 1980er Jahren eine feste Größe, wenn nicht Berühmtheit im deutschen Literaturbetrieb. Heute scheint er fast vergessen – Grund genug, an ihn und sein aus vielen Gründen einzigartiges Werk zu erinnern. Seine Bücher, vor allem die Monologromane „Tynset“ (1965) und „Masante“ (1973), die bahnbrechende Studie „Mozart“ (1977) und die fiktive Biographie „Marbot“ (1981) markieren Solitäre der neueren deutschen Literaturgeschichte, in ihrer Art eben einzig – artig.

Hildesheimer, ein Meister in vielen Disziplinen und Genres (Prosa, Essays, Dramen, Hörspiele, Übersetzungen) war auch immer bildender Künstler. Er beginnt als bildender Künstler und kehrt, nach dem Schreiben, einem Intermezzo von vierzig Jahren, „wenn die Worte versickern“, mit seinen Collagen zur Bildenden Kunst zurück.

Ein Abend, der versuchen soll, einige biographische Stationen in Hildesheimers Vita zu vergegenwärtigen, die bedeutend, womöglich unverzichtbar sind zum besseren Verständnis seines Werks - etwa die Psychoanalyse, der er sich in jungen Jahren in Palästina unterzog oder seine Tätigkeit als Simultandolmetscher und Redakteur der Prozessakten während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse (1946 – 1949).

Beides, die frühe Vertrautheit mit der Psychoanalyse und die direkte Konfrontation mit den Tätern des NS-Regimes, wird in der Rückschau kenntlich als kardinale Erfahrung, die Hildesheimer geprägt hat und die auf verschiedenen thematischen Spuren in seinem späteren Werk, dem literarischen wie dem bildkünstlerischen, verarbeitet wird. „Mozart“, oft als Biographie missverstanden, ist ein gewaltiger Essay über Entstehung und Rezeption großer Musik, Nachdenken über die Psychopathologie des Genies. „Tynset“ und „Masante“ sind ein Echo aus Sprache auf die gespenstische Existenz jener „Häscher“, denen Hildesheimer in Nürnberg gegenüberstand.

Und: der Abend sollte wenigstens versuchen zu illustrieren, dass und warum es unerlässlich ist, Hildesheimer auch als einen jüdischen Autor deutscher Sprache zu lesen.“


Wolfgang Hildesheimer wurde am 9. Dezember 1916 als Sohn jüdischer Eltern in Hamburg geboren und starb am 21. August 1991 in Poschiavo in der Schweiz. 1933 emigrierte er über England nach Palästina, wo er eine Schreinerlehre absolvierte. 1937 begann er an der Central School of Arts and Crafts (London) Malerei, Textilentwurf und Bühnenbildnerei zu studieren und nahm von London aus am Sommerkurs für Bühnenbild bei Emil Pirchan in Salzburg teil. Anfang 1939 gestaltete er in London am Tavistock Little Theatre sein erstes Bühnenbild. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kehrte er nach Palästina zurück, arbeitete als Information Officer, war Englisch-Lehrer am British Institute und leitete zusammen mit einem Freund einige Zeit die Werbeagentur »HW«. Er beteiligte sich an Kunstausstellungen und veröffentlichte einige Gedichte, Essays und Kritiken. 1946 kehrte er nach London zurück, um Bühnenbildner zu werden, wurde aber für die Nürnberger Prozesse engagiert. Im Januar 1947 reiste er nach Nürnberg, dolmetschte für die amerikanische Besatzungsmacht und beteiligte sich wieder an Kunstausstellungen. 1949 zog er nach Ambach am Starnberger See, um als freier Maler und Grafiker zu arbeiten, schrieb im Januar 1950 aber eine Geschichte für Kinder – der Beginn seiner literarischen Karriere. Bereits 1951 wurde er zur Gruppe 47 eingeladen, 1955 erhielt er den Hörspielpreis der Kriegsblinden und im selben Jahr wurde zudem sein erstes Theaterstück von Gustav Gründgens uraufgeführt; ebenfalls in diesem Jahr begann er auch wieder zu malen. Nachdem er 1953 nach München gezogen war, übersiedelte er 1957 nach Poschiavo und widmete sich einer neuen Art von Theaterstücken, deren Besonderheiten er 1960 mit der Rede Über das absurde Theater fundierte. Anlässlich der Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen in Erlangen gehalten, sorgte diese für Aufsehen. Sein Prosabuch Tynset wurde 1966 mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Sein Bestseller Mozart (1977) beeinflusste das Theaterstück und den Film Amadeus. Seit 1961 beteiligte er sich wieder an Ausstellungen, seit 1965 wurde sein bildkünstlerisches Werk in rund fünfzig Einzelausstellungen gezeigt. 1980 hielt Hildesheimer die Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele Was sagt Musik aus. Neben seinen literarischen Werken verfertigte Hildesheimer auch Collagen, die er in mehreren Bänden sammelte. Spektakulär war 1984 seine Ankündigung, angesichts der drohenden Umweltkatastrophe nicht mehr zu schreiben, sondern zur bildenden Kunst zurückzukehren.

Auszeichnungen

Weilheimer Literaturpreis 1991

Großes Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland 1983

Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 1982

Ehrendoktor der Justus-Liebig-Universität Gießen 1982

Ehrenbürger von Poschiavo 1982

Büchner-Preis 1966

Bremer Literaturpreis 1966

Hörspielpreis der Kriegsblinden 1955


Hartmut Buchholz hat vor langen Jahren bei der Badischen Zeitung in Freiburg volontiert, arbeitet als Journalist und Buchautor; er hat ein Buch über Wolfgang Koeppen publiziert, einige Reiseführer, einige Essays. Er lebt in Mombasa / Kenia und in Bonn.


Zusätzliche Informationen