Freitag, 23.06.2017, 20 Uhr

Johannes Bobrowski in seinen Briefen - vorgestellt von Jochen Meyer

Sarmatien, das Land zwischen Weichsel und Wolga - Johannes Bobrowski hat es zum literarischen Kosmos gemacht. Am Anfang fünfzehn verlorene Jahre: Arbeitsdienst, Wehrpflicht, Kriegsdienst, russische Gefangenschaft bis Ende 1949. Die Ost-West-Spannung der Epoche gibt seinen Briefen den Grundton. Mit den ersten Buchveröffentlichungen im 'Westen' beginnt der jähe Ruhm des in Ost-Berlin lebenden Ostpreußen. Als er 1962 in West-Berlin den Preis der Gruppe 47 erhält (nach Ingeborg Bachmann und Günter Grass), eskaliert gerade die Spiegel-Affäre, und die Welt hält den Atem an in der Kuba-Krise.

Der Herausgeber Jochen Meyer hat über 1.200 Briefe aus den Jahren 1937 bis 1965 zusammengestellt. In seinen Erläuterungen macht er die Untertöne hörbar und verständlich. Dabei kommen auch die Gegenbriefe aus dem Nachlass des Dichters im Deutschen Literaturarchiv Marbach zu Wort. Von Ina Seidel und Ernst Jünger spannt sich der Bogen über Peter Huchel, Peter Jokostra, Paul Celan, Klaus Wagenbach, Günter Grass, Uwe Johnson bis zu den damals Jüngsten: Hubert Fichte, Nicolas Born, Guntram Vesper. Im Zentrum stehen die engsten Freunde: Max Hölzer und Christoph Meckel. Mit von der Partie ist die Stasi; sie präpariert insgeheim eine Anklage wegen „staatsgefährdender Hetze“.

Dr. Jochen Meyer leitete bis 2006 die Handschriftenabteilung im Deutschen Literaturarchiv, Marbach. Er veröffentlichte Literatur zu Döblin, Albert Dulk, Fontane, Ernst Hardt, Hans Henny Jahnn, Wilhelm Lehmann, Wilhelm Raabe, Tucholsky und zu verlagshistorischen Themen

Johannes Bobrowski: Briefe. 4 Bde. Herausgegeben von Jochen Meyer. Mainzer Reihe, Neue Folge Wallstein  2017. 2672 S. Ln im Schuber  199,00 € 


Helmut Böttiger über die Briefe Johannes Bobrowskis im Deutschlandradio Kultur am 8. April 2017:

„Die von Jochen Meyer umfassend und detailreich kommentierte, große vierbändige Briefausgabe erlaubt nun zum ersten Mal einen genauen Blick auf das Phänomen Bobrowski. Aus den zahlreichen Briefen aus allen Lebensphasen lässt sich mühelos eine differenzierte Biografie dieses geheimnisvollen Dichters rekonstruieren, der Anfang der sechziger Jahre mit der lyrischen Beschwörung des sarmatischen Raums hervortrat – eine Bezeichnung des antiken Geografen Ptolemäus für das Gebiet zwischen Ostsee und Schwarzem Meer.

Es gibt viele einzelne Geschichten, die diese Briefe erzählen: der Abstand zum Literaturbetrieb, die völlig autonome Entwicklung einer eigenen poetischen Sprache, der plötzliche Ruhm. Die Freundschaft zu dem ungestümen Lyriker Peter Jokostra, der bald in die Bundesrepublik floh, weicht schnell einem Entsetzen über dessen Geltungssucht. Doch die Fähigkeit zur Freundschaft ist eines von Bobrowskis größten Talenten, man spürt das, wie er an seine engsten Gefährten schreibt: vor allem an den viel jüngeren Christoph Meckel und dessen Malerfreundin Lilo Fromm, an den Surrealisten Max Hölzer, an den Trinkgenossen Günter Bruno Fuchs oder den hellsichtigen Lektor und späteren Verleger Klaus Wagenbach.

Die Überforderung durch den westdeutschen Literaturbetrieb, das Wettbieten der Verlage um seinen Roman "Levins Mühle" rückt atmosphärisch äußerst nah. Und auch die Gefährdungen seiner Position in der DDR werden sehr deutlich: die Überwachung durch die Stasi, das notwendige Taktieren, um die innere Unabhängigkeit abzusichern – mit all den zwiespältigen Begleiterscheinungen, die das zwangsläufig mit sich brachte.

Dieser Briefwechsel ist eine spannende deutsch-deutsche Literaturgeschichte, mit vielen bisher unbekannten Informationen und Seitensträngen, und er zeigt wieder einmal, dass große Literatur vor allem gegen die Zeitläufte und ihre Moden entsteht.“

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